Dieser Artikel ist Teil des Features „Starke Typen. Wilhelm und Alexander von Humboldt

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mit Mandana Seyfeddinipur
Mandana Seyfeddinipur, Sie sind eine Sammlerin verschwindender Sprachen – wie muss man sich das vorstellen?

Mandana Seyfeddinipur: Das hört sich auf Deutsch sehr lustig an – als ob Jäger rausgehen, Sprachen einpacken und irgendwo hinbringen. So weit ist dieses Bild von unserer Arbeit auch gar nicht entfernt. Unsere Welt verändert sich in einem unglaublichen Tempo – auch im Bereich der Sprachen: Sie verschwinden so rasant wie noch nie. Unser Programm vergibt daher Stipendien an Linguisten überall in der Welt, die zum Beispiel in Papua-Neuguinea, Sibirien oder Südamerika diese Sprachen dokumentieren.

Warum ist es so dringend, all diese Sprachen zu dokumentieren?

Von geschätzten 7.000 Sprachen wird die Hälfte am Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr existieren. Die Hälfte der Bevölkerung der Welt spricht nur 25 Sprachen, also die großen Sprachen von Mandarin über Spanisch und Englisch bis zum Deutschen. Die anderen mehr als 6.000 Sprachen werden vom Rest der Welt gesprochen: Das bedeutet, dass es Sprachen gibt mit nur 300 oder auch 75.000 Sprechern, das sind alles kleine Sprachen. Und die meisten dieser Sprachen sind nie aufgeschrieben worden – das heißt, die linguistische Vielfalt verschwindet vor unseren Augen, ohne eine Spur zu hinterlassen!

Warum verschwinden so viele Sprachen?

Die Gründe sind der Klimawechsel, die Globalisierung und Modernisierung. Wenn die Menschen in ländlichen Gebieten keine Zukunft mehr für sich sehen, gehen sie in die Städte. Dort sorgen sie dafür, dass ihre Kinder die Mehrheitssprache sprechen, mit der sie wirtschaftlich und sozial die größten Chancen haben. Und sobald die Kinder ihre herkömmliche Sprache nicht mehr lernen, ist es vorbei. Dieser Sprachwechsel ist ein ganz normaler Prozess: Das gab es immer auf der Welt, dass Sprachen sich verändern, dass Dialekte kommen und andere gehen – Latein wird ja auch nicht mehr gesprochen. Doch das Tempo, in dem das passiert, ist einfach beispiellos. Wissenschaftler vergleichen es mit dem fünften Massensterben, als die Dinosaurier ausstarben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich war gerade erst in Yunnan in China, wo wir 30 chinesische Studentinnen und Studenten unterrichtet haben. Die haben erzählt, dass Kinder unter zehn Jahren bestimmte Sprachen gar nicht mehr sprechen. Ihre herkömmliche Sprache sprechen die Kinder vielleicht noch zu Hause, doch in der Schule lernen sie alles auf Mandarin, untereinander sprechen sie Mandarin – und die Eltern stellen sicher, dass die Kinder das gut können. So lernen die Kinder die Sprache ihrer Herkunft nicht mehr. Dann dauert es zwei Generationen, und die Sprache ist mit ihren letzten Sprechern verschwunden.

Ketzerisch gefragt: Wie schlimm ist es für die Welt, wenn ein paar kleine Sprachen oder Dialekte sterben?

Man muss sich einfach überlegen, warum wir Menschen im Laufe unserer Geschichte diese ganze Vielfalt an Sprachen herausgebildet haben: Darin ist das Wissen der Menschheit gespeichert, Wissen über Pflanzen, Medizin, Anbau, Kochen, über soziale Verhältnisse und Beziehungen. Unsere Weltsicht prägt auch unsere Sprachen. Wir verlieren diese unglaubliche Vielfalt, bevor wir sie in Ansätzen verstanden haben. Außerdem sind unsere Museen voll von Objekten aus früheren Tagen – doch das Wissen über diese Objekte steckt in den Sprachen!

Haben Sie beim Sammeln Prioritäten?

Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Alle zwei Wochen stirbt eine Sprache. Wir setzen die Priorität auf die bedrohtesten Sprachen, im Moment können wir uns nicht um die Dialekte kümmern. Es gibt auch nicht viele Linguistinnen und Linguisten, die diese Arbeit machen. Und wir sind die einzigen, die diese Dokumentationsarbeit weltweit unterstützen. Die Volkswagenstiftung hat das Programm zehn Jahre lang gefördert, das ist jetzt aber ausgelaufen. Wir haben keine mächtige WHO im Rücken.

Wenn man sich die Landkarte gefährdeter Sprachen anschaut: Es sind ja nicht nur ferne Regionen betroffen, sondern auch Europa und Deutschland?

Ja, natürlich. In Europa ist die Vielfalt ja schon relativ stark wegradiert. In Deutschland kann man das Friesische nehmen: Da ist nicht mehr viel übrig, was am Leben erhalten werden kann. Wir Linguistinnen und Linguisten selbst greifen in diesen Prozess übrigens nicht ein. Wir dokumentieren, solange wir das noch können. Falls die Gemeinschaft ein Interesse hat, die Sprache zu erhalten, kann der / die Linguistin/ in als Berater helfen. Man kann zum Beispiel aus dem Material Kinderbücher herstellen. Das Problem ist nur: Man kann Kindern in der Schule in zwei Stunden wöchentlich beibringen, so viel man will – wenn sie die Sprache nicht draußen sprechen und keinen Grund haben, sie zu sprechen, wird sie das nicht überleben.

Mehrsprachigkeit bedeutet keine Überforderung für Kinder?

Nein, es gibt aber immer noch Eltern, die glauben, ihre Kinder würden keine Sprache richtig lernen, wenn sie mit mehreren Sprachen aufwachsen. Dieser Irrglaube ist erstaunlich, weil inzwischen sehr viel Forschung die Vorteile der Mehrsprachigkeit belegt. Wenn Freunde mich als Linguistin danach fragen, gebe ich immer folgendes Beispiel: Man gebe einem Kind einen Ball, und einem anderen Kind einen Ball, einen Kochlöffel sowie einen Topf. Beide Kinder spielen jeweils drei Tage mit diesen Objekten. Welches Kind hat wohl am Ende mehr gelernt? – Dann gucken mich die Eltern immer an und fragen: Ist es so einfach? Und ich sage: Genau so einfach kann es sein.

Das Interview führte Antje Weber.

Autor*in
Mandana Seyfeddinipur

Dr. Mandana Seyfeddinipur hat in Berlin unter anderem Linguistik studiert und wurde in Nijmegen promoviert. Sie leitet das SOAS World Languages Institute in London und forscht über die Psychologie und Gestik von Sprachen.