Dieser Artikel ist Teil des Features „… eine Welt, in der Kolonialität nicht mehr möglich ist.

Aus den Wunden erwachsen neue Verantwortlichkeiten

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Die Antwort von Elisabetta Corrà auf unseren Aufruf hat uns überrascht. In ihrem Beitrag ging es nicht um die Instrumentalisierung postkolonialer Kritik, sondern um den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Artensterben. Ihrer Lesart nach ist das Humboldt Forum zudem möglicherweise das erste „Museum des Anthropozäns“, in welchem sich postkoloniale Kritik mit anderen Diskursen zu etwas Neuem verbindet. Da wir uns nicht ganz sicher waren, ob wir die Autorin richtig verstanden hatten, baten wir sie, sich auf den Call for Contributions zu beziehen, woraufhin sie direkte Antworten auf die darin formulierten Fragen einreichte. Beides – der ursprünglich eingereichte Text und ihre anschließenden Antworten – sind in dieser Fassung als komplementäre Erzählstränge zu lesen.


Die Erkenntnis vom Einbruch der Artenvielfalt ereilt zuverlässig nur diejenigen, die die majestätischen, noch verbliebenen Wildnisgebiete unseres Planeten aufsuchen. Drastische Veränderungen der tierischen Gemeinschaften, ebenso wie der Klimamuster und die Verschiebung der Vegetationen nach Norden, sind sogar noch gravierender und deutlicher zu erkennen. Aber hier in Europa sehen die meisten Menschen nie die Taiga oder die immerfeuchten tropischen Urwälder des Kongobeckens. Der Verlust der biologischen Vielfalt fährt durch unsere Körper, aber wie ein Gespenst. Die westliche Gesellschaft ist nämlich fortwährend mit anderen Dingen beschäftigt. Viele von uns haben kaum Kenntnis davon. Aber fast jede*r würde, wenn er oder sie gefragt würde, das derzeitige sechste massenhafte Artensterben nicht korrekt in die europäische Geschichte einordnen. Folglich ignorieren wir, wie wir es dazu haben kommen lassen, warum und im Namen welches religiösen oder politisch-empirischen Glaubens. Die Eröffnung des Humboldt Forums im Jahr 2021 markierte im postkolonialen Diskurs Europas eine Schwelle zwischen vorher und nachher. Es ist das erste Museum des Anthropozäns. Es ist das Museum, das den Rückgang der biologischen Vielfalt und die öko-evolutionären Voraussetzungen der Zivilisation (die Fähigkeit des Homo sapiens zur Nischenbildung) in Zusammenhang bringt mit deren bemerkenswertem Niedergang während der ozeanischen Unternehmungen der europäischen Völker ab dem 16. Jahrhundert: der Kolonialisierung.

Was wäre, wenn die Bedeutung des Humboldt Forums eben darin bestünde, dass es die Möglichkeit bietet, einen ganzen Apparat an historischen Widersprüchen in den öffentlichen Raum zu stellen, welche nach wie vor das westliche Bewusstsein prägen? Wenn das Humboldt Forum Gelegenheit böte, alte, fest verwurzelte Narrative auszumerzen, welche Stück für Stück abgebaut und auf viel radikaler exponiertere Weise an die Zivilgesellschaft zurückgespielt werden müssen?

Ist postkoloniale Kritik für Institutionen wie das Humboldt Forum eine Ware? Ich glaube nicht. Mal abgesehen davon, dass man jahrelang über die Kommodifizierung von schlechthin allem reden könnte, müssen wir hier einen Sprung wagen (im Sinne Heideggers). Eine Institution, die Kolonialismus dem öffentlichen Verständnis darlegen will, muss sich postkoloniale Kritik als Teil ihrer Anhängerschaft bewahren. Nicht als Feindbild. In diesem Jahrhundert fürchten wir uns, etwas aus der Möglichkeit heraus zu denken, dass man es in einen transformativen Diskurs verwandeln könnte. Aber genau dieser offene Diskurs ist meiner dezidierten Meinung nach heute notwendig, um die herkömmlichen Narrative zu demontieren. Friktionen sind Teil der Wahrheit.

In jüngster Zeit haben die Debatten des Postkolonialismus den erweiterten Kontext des Kolonialismus a priori ausgeklammert. Dieser hat sich seinen Weg um die Welt gebahnt und langfristige Folgen verursacht: die ökologische Landschaft. Der Kolonialismus hat nicht nur Nationen und Zivilisationen ausgeplündert. Er drang tief nach Afrika, Asien und Amerika vor und hat das ökologische Gleichgewicht auf diesen Kontinenten für immer verändert. Die Strategien, die die Europäer*innen bei der Nutzung natürlicher Ressourcen anwandten, sind bis heute wirksam.

Darüber hinaus ist die Diskussion über die Rückgabe afrikanischer Kunst gleichbedeutend mit der Diskussion über die auf den Kolonialismus zurückgehenden aktuellen Umweltprobleme der afrikanischen Länder. Es besteht eine frappierende Kontinuität zwischen dem kolonialem Wirtschaften und der heutigen Umweltausbeutung. Bestes Beispiel sind die Naturschutzgebiete. Man kann das Schicksal der Ökosysteme als historische Vorlage zum Verständnis kolonialistischer Völkermorde lesen. Auf seiner Reise durch das Anthropozän muss das Humboldt Forum Kolonialismus, Postkolonialismus und Biosphäre zusammendenken. Menschliche Wesen und Faunen, Wälder und Ozeane wurden einer einzigartigen und kohärenten Denkweise gemäß behandelt. Sicher, dieser Ansatz ist unkonventionell und entfernt sich weit von der öffentlichen Meinung. Ein origineller Diskurs ist immer unvollständig: Er gibt einer völligen Neukonfiguration der Konzepte Raum. Der Postkolonialismus könnte nun als das erzählt werden, was er schon immer gewesen ist: eine gemeinsame Geschichte von Mensch und Tier.

Mächtige, hierarchische Strukturen wirkten synchron auf Tiere und Völker. Diese Haltung stand seit Beginn der ozeanischen Abenteuer im Mittelpunkt der europäischen Expansion. In seinem jüngsten Buch (The Nutmeg Curse) führt Amitav Ghosh ein gutes Beispiel dafür an: „Wie ein Planet ist die Muskatnuss von einer Reihe sich ausdehnender Sphären umgeben.“ Die globale Ausbeutung dieser würzigen Frucht, der Muskatnuss, nahm mit dem Einsatz von Mitteln des Völkermords und der brutalen Aneignung von natürlichen Ressourcen auf den Banda-Inseln ihren Anfang. Aber die Zerstörung war im kolonialen Denken immer öffentliche Demonstration einer rücksichtslosen, unwiderruflichen Macht: „Ein Kernmythos der Gründung Madeiras, einer der ersten außereuropäischen Inseln, die kolonisiert wurde, war ein sieben Jahre dauernder Brand, durch den die dicht bewaldete Landschaft zum Zweck der Besiedlung gerodet wurde.“ Mit den Worten Olufemi O. Taiwos: „Ausbeutung, Gewalt, Imperium – all diese wiederkehrenden Elemente der Menschheitsgeschichte haben die Tendenz, sich miteinander zu verbünden. Der globale Markt ist auf eine bestimmte Art und Weise auf Wachstum fixiert, welche zu einer Ära des Raubbaus, der Ausbeutung und schließlich des zerstörerischen Klimawandels geführt hat.“ Zählen Sie das sechste Massenaussterben hinzu.

Ich denke, dass Komplexität die Kritik fördern muss. Das Humboldt Forum bloß als Symbol weißer Dominanz abzustempeln, halte ich daher für sehr verkürzt. Das geht einfach am Thema vorbei. Eine solche Aussage verstärkt die Kritik, um sich nicht mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Wie Jacques Lacan sagte, bedeutet Zukunft, etwas aus seinen Wunden zu machen. Die Alternative ist: in der Vergangenheit gefangen zu sein, nur um der alten Gerechtigkeit willen die Vergangenheit zu schützen.

Der Standort des Humboldt Forums in der Stadt Berlin ist in der Tat für dessen kontroverse Rolle von Bedeutung. Dieser Ort gibt der neuen postkolonialen Hermeneutik einen gigantischen Impuls. Das koloniale Unternehmen impliziert spezifische Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Folgen wiederum eine sekundäre, grausame Wirkung hatten. Es handelte sich hierbei um diachrone Verbrechen, die sich verhängnisvoll auf die nachfolgenden Generationen auswirkten. Der Kolonialismus war eine riesige Fabrik der Welt, in der wir heute leben, menschlich und ökologisch. Europäer*innen führten ihn aus. Europäer*innen planten ihn. Europäer*innen dachten ihn. Angesichts dieser Zahlen kann man sagen, dass das Humboldt Forum einen Europäischen Sonderweg beschreitet. Das löst beunruhigende Gefühle aus. Aber den intellektuellen Konflikt zwischen der Institution und der Zivilgesellschaft am Leben zu halten, Widersprüche vor banalen Lösungen zu schützen, könnte sich auch als wunderbares Instrument herausstellen. Die Kontroverse trägt dazu bei, dass bei Europäer*innen eine echte Verantwortung gegenüber der Ausrottungskrise entsteht. Die durch die Kolonialmächte geschlagenen Wunden sind das Erbe einer Menschheit. Achille Mbembe arbeitet treffend heraus, dass die Menschheit in sozialen und politisch-ökonomischen Kontexten von tiefem historischen Gewicht lebt. Wir sollten erkennen, dass die historischen, kapitalistischen Verhältnisse nun zu einem globalisierten Zustand werden. Die schwarze, koloniale Vergangenheit wird, so Mbembe, zunehmend zur globalen Gegenwart, insofern „[…] die systemischen Risiken, denen zu Zeiten des Frühkapitalismus nur die N**** ausgesetzt waren, inzwischen vielleicht nicht die Norm, aber zumindest doch das Schicksal aller subalternen Menschengruppen“ geworden sind.(1) Mit anderen Worten: Unser heutiges Anthropozän ist der Ort, an dem Kolonialismus, Postkolonialismus und ökologische Zerstörung zu einem einzigartigen humanitären Zusammenbruch konvergieren.

Doch bisher beschränkt sich die postkoloniale Kritik auf Ethnographie, Soziologie und die Afrikawissenschaften. Ökolog*innen wissen nicht mehr, als was sie bei ihren Forschungen in Kamerun, Gabun oder Südafrika erlebt haben. Noch prekärer ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, die ihre Zeit und Leidenschaft eher in den Louvre und das British Museum investiert. Man kann sagen, dass infolgedessen das Thema Postkolonialismus in Europa mit einem großen, dominanten Schweigen behaftet ist. Aber postkoloniale Kritik ist eher ein radikales Infragestellen Europas als nur ein politischer oder diplomatischer Zwist. Was macht heute die europäische Zivilisation aus? Ist das Selbstverständnis Europas in Resonanz mit den Herausforderungen unserer Zeit? Auf welche Art sind wir Europäer*innen uns unserer westlichen Identität bewusst?

Wir gehen hier von westlich in seiner streng philosophischen Bedeutung aus. Westlich bezieht sich nicht in erster Linie auf die kapitalistische Wirtschaft. Ein reiner Bezug auf die Ökonomie behindert die postkolonialen Kritiker*innen bei der Rekonstruktion der beispiellosen Barbarei auf den Plantagen. Westlich ist in seiner Bedeutung „typisch für Europa“, so der italienischen Philosoph Emanuele Severino: „Der Westen ist die Struktur, die uns sagt, wer wir sind.“ An der Wurzel des Kolonialismus befindet sich ein bestimmtes Weltverständnis, eine eigenartige Interpretation der Existenz. Europa ist eine Berufung, eine Richtung, eine intellektuelle Niederlassung. Für Severino ist Europa eine Episteme (ein altgriechisches Wort für ein Wissen-stabil-und-unbestreitbar): eine Bestätigung des Naturverständnisses in absoluter Gewissheit, um den mit dem organischen Leben einhergehenden Schmerz und das Leid zu bezwingen. Hierin liegt die Quelle der Logik, Wissenschaft und Technologie. Sowohl die sich über die Ozeane erstreckenden Handelsnetze als auch die wissenschaftliche Expansion waren die moderne Weltanschauung dieser alten Absichtserklärungen, die auf die griechische Zivilisation zurückgingen. Die westliche Welt ist das noch besser organisierte Bestreben, den Menschen durch eine vollständige Eroberung der belebten Welt eine gesicherte Existenz zu verschaffen. Die Welt „als Ressource“, beschreibt es Ghosh – eine Fabrik, in der die einzigen wirksamen Ideen in der „physischen Unterwerfung von Menschen und Territorien“ bestehen, „der Idee der Eroberung als Extraktionsverfahren“.

Nur durch ein tiefes Verständnis der Bedeutung des westlichen Denkens wird uns deutlich, wie der Kolonialismus den Planeten verwüstet hat. Wenn sich die postkoloniale Kritik auf ein Verurteilen des globalen Kapitalismus beschränkt, wird das Ergebnis bescheiden ausfallen. Das Risiko besteht darin, die Dekolonisierung auf zivilen Aktivismus derjenigen ethnischen Gruppen zu beschränken, die am meisten unter den schrecklichen Folgen der jahrhundertelangen weißen Vorherrschaft leiden. Das ist zu wenig angesichts des enormen Ausmaßes an sozialen Ungleichheiten, die Artensterben und Klimakrise ihnen auferlegen. Ein kollektives Gewissen der Dekolonisierung ist dringend erforderlich.

Nur die Restitutionsfrage zu thematisieren, wie es Bénédicte Savoy getan hat, hat seine klaren Beschränkungen. Eine große Anzahl menschlicher Erfahrungen wurde von der Kritik am Humboldt Forum ausgeschlossen. Dennoch ist es ein Symptom des Reduktionismus, Ökologie und die Wissenschaft vom Artensterben auszuschließen.

Soweit ich es verstehe, ist die postkoloniale Kritik innerhalb des Forums ein beständiges Work-in-Progress, ein permanentes Zwischenergebnis der Arbeit an der Bestätigung der Mission und Vision, mit der wir uns alle befassen. Sie ist ein Stimulus, ein ständiger Weckruf, der darauf hinweist, dass die langsame Arbeit des Verstehens in der Beziehung zu unserer Zeit wurzelt, in der Beziehung zu unserer Spezies, unseren Nationen, zu den uns umgebenden Menschen und den Menschen, die wir nie kennen werden. Ich bin der Ansicht, ein solcher Ort, ein Ort, an dem die Konfrontation mit der intimen Brutalität der Zivilisation möglich ist, wird dringend benötigt.

Das Humboldt Forum muss im historischen und ökologischen Kontext unserer Gegenwart innerhalb eines bestimmten Rahmens betrachtet werden. Ich nenne diesen Rahmen deep history, Tiefengeschichte. Deep history, um genau zu sein eine ökologische Geschichtsschreibung, liefert uns eine sehr vielschichtige und facettenreiche Interpretation der kolonialen Vergangenheit. Die Geschichte von Nationen und Menschen geht in die Geschichte von Faunen und Lebensräumen über. All diese Geschichten wiederum helfen uns, die Kämpfe um Menschen- und Bürgerrechte zu beleuchten. Ein Museum für das Anthropozän legt diese Zusammenhänge offen und präsentiert sie. Und das ist seine Hauptaufgabe. Sie impliziert, dass die Wunden der Vergangenheit nicht durch gute Absichten entfernt, annulliert oder verborgen werden können. Die Folgen von Artensterben und Völkermord sind meta-temporal und begleiten uns nach wie vor. Sie sind zum Bleiben verdammt. In dieser Hinsicht sind Europäer*innen und Afrikaner*innen sehr unterschiedlich positioniert. Aber wir ertragen die Aggression der Vergangenheit gemeinsam. Der Kolonialismus ist das Taufbecken unserer Modernität, wie Achille Mbembe sagte.

Nur auf diese Weise, so vermute ich, ist innerhalb der postkolonialen Kritik eine aktualisierte Ethik überhaupt möglich. Sie nimmt die globale Wunde des Kolonialismus an.

Ein dem Kolonialismus gewidmetes Museum muss die Unumkehrbarkeit der Wunde bewahren. Nur diese Narbe kann helfen, das europäische Denken zu übersteigen. Diese Bewegung öffnet eine Lichtung für einen neuen Rechtsraum, der jedem einzelnen Lebewesen auf der Erde offensteht. Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus und die technologische Aneignung der Realität müssen als Symptom eines Denkens verstanden werden, das auf die Objektifizierung des Planeten ausgerichtet ist. Eine Alternative ist dringend erforderlich. Dann, um es mit den Worten Emanuele Severinos zu sagen: „[…] wird sich die Chance auftun, darüber nachzudenken, was die Last der westlichen Identität herbeiführt, und die Geschichte der ganzen Welt. Wir werden uns befragen […]”.

 

(1) Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Suhrkamp 2014, S. 18

Autor*in
Elisabetta Corrà

Elisabetta Corrà ist eine in Italien ansässige Umweltjournalistin, die sich schwerpunktmäßig mit dem sechsten Massenaussterben beschäftigt. Nach einer langjährigen Tätigkeit als freie Mitarbeiterin bei LA STAMPA (leitende italienische Zeitung), wo sie über den Rückgang der weltweiten Artenvielfalt, insbesondere in Afrika, berichtete, gründete sie ihr eigenes Forschungsprojekt TRACKING EXTINCTION (https://trackingextinction.com)