Dieser Artikel ist Teil des Features „… eine Welt, in der Kolonialität nicht mehr möglich ist.

Common Sense

3 Min Lesezeit

von Agnes Tam und Aki Makita

Liebe Aki,

das Visual ist total spannend! Aber ich muss dir sagen, dass die meisten Leute, die unsere Arbeit gesehen haben, sie einfach als ein süß-sauer Egal-Gericht auf der Speisekarte abtun. Aber ich möchte, dass die Geschichte erzählt wird, dass sie weitergegeben wird, von Hand zu Hand, von Briefträger zu Briefträgerin, von Post-Mann zu Post-Frau. Deshalb packe ich sie hier mal ins Postskriptum.

xx

p.s. Haar. Schnitt!

Ein Nachmittag im Volkspark am Weinberg.

Ich ging so im Park spazieren und eine entgegenkommende Frau ließ mich nicht aus den Augen. Obwohl das nichts Ungewöhnliches ist, möchte ich normalerweise nicht mit der entsprechenden Person in Kontakt treten. Diesmal kamen mir aber irgendwie doch ein paar Worte aus dem Mund.

Kennen wir uns?

Nein. Ich mag deinen Kurzhaarschnitt. Darum habe ich so geschaut.

Wir mussten beide lachen. Ich erklärte ihr gern, wie meine Frisörin das mit dem Schnitt gemacht hat. Sie, zufrieden, mit einem breiten, freundlichen Lächeln, als wir gerade auseinandergehen wollten: „Haha, wie die Welt sich verändert hat! Damals haben die Asiaten doch unsere Ideen geklaut. Jetzt müssen wir schon von euch klauen!”

p.p.s.

Ihre beiläufige Bemerkung klang in meinen Ohren wie „Erbsünde“ – das Verbrechen der Urheberrechtsverletzung – der Weißengott-verbotene Biss in die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Obacht, Wissen! Was ich aus dem Gespräch mitnahm war die Wissenslücke zwischen der Neandertalerin in dieser Szene und mir. Diese Lücke zwischen uns hat nichts damit zu tun, dass wir keine gemeinsame Sprache hatten, sondern eher mit Common Sense.

p.p.p.s.

„Kritik instrumentalisieren für die Gestaltung einer gerechteren Welt“. Neben dem Call for Contributions des Magazins ist ein gelbes Shirt mit großem Decolonise–Aufdruck abgebildet.

Wenn wir uns aber die nach dem 2. Weltkrieg dekolonisierten Staaten anschauen, beispielsweise die ehemaligen britischen Kolonien in Asien, ist es nicht sehr überzeugend, dass Dekolonialisierung just diesem Zweck gedient hat. Was ist beim Beseitigen des Unrechts schief gelaufen?

Die Kolonisatoren hatten ihre Anwesenheit lange als Zivilisierungsmaßnahme gerechtfertigt. Da Zivilisierung die Befreiung von Unwissenheit und die Abkehr von der Barbarei bedeutet, sind Vernunft und (wissenschaftliche) Rationalität zentrale Elemente des Projekts. Nach diesen Maßstäben ist das zivilisatorische Projekt noch nicht abgeschlossen.

Im Zeitalter der Information ist selbstgewählte Unmündigkeit völlig ausgeschlossen. Es geht eher darum, den Mut zu haben, uns das, was wir zu denken glauben, zu eigen zu machen, anstatt dass wir unser Gehirn an Genealogie oder den traditionellen Glauben outsourcen. Wenn wir ein Werkzeug gebrauchen, um unser Umfeld zu gestalten, müssen wir vorsichtig sein, dass es auch wirklich ein Werkzeug ist, nicht der Werkzeugkasten drum herum.

Autor*innen
Foto von Agnes Tam
Agnes Tam

Hongkongerin in Berlin. Bevor sie sich 2015 in Deutschland neu orientierte, sammelte sie über 10 Jahre Erfahrung im öffentlichen Dienst, wo sie sich mit regelmäßigen und irregulären Bewegungen von Menschen beschäftigte. Seit 2018 hat Tam begonnen, Dokumentarfilme zu produzieren. Die durch und durch grenzüberschreitende Erfahrung steuert ihre Arbeiten, um die Akteure und Kräfte der Globalisierung in den Vordergrund zu stellen.

Foto von Aki Makita
Aki Makita

Designerin aus Japan mit den Schwerpunkten Webdesign und Grafikdesign. Dabei interessiert sie sich für Designs, die darauf abzielen, sozial integrativ zu sein. Ihre Auseinandersetzung mit Gesellschaft erfolgt durch die Werkzeuge Design und Handwerk.