Dieser Artikel ist Teil des Features „Was soll das? Das Kreuz auf dem Humboldt Forum

Streit ums Kuppelkreuz – ein Berliner Kulturkampf

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Es ist nicht zu überhören: Immer wieder gibt es Aufregungen um Religion – in einer Gesellschaft, die von sich mehrheitlich denkt, sie sei doch säkular geworden. Man nimmt Anstoß an religiösen Zeichen, an allzu viel sichtbarer Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit. Moscheebauten sind nach wie vor umstritten, sind für viele Menschen in unserem Land mindestens gewöhnungsbedürftig. Der Kölner Streit um Muezzin-Rufe ist noch nicht ausgestanden. Und auch die unser Land geschichtlich viel länger prägende christliche Religion trifft es. So meinte man im Berliner Außenministerium, für eine G7-Konferenz im Rathaus Münster ein Kreuz entfernen zu müssen, das ein Zeugnis aus der Zeit des westfälischen Friedens ist. Mit Rücksicht auf wen eigentlich? Ein anderes Beispiel: Die deutsche Staatsministerin für Kultur nimmt Anstoß an einem Kreuz, das Teil der historischen Rekonstruktion des Berliner Schlosses ist. Und sie unterstützt ein Projekt, das ein von unten kaum lesbares Band um die Kuppel, mit von einem Preußenkönig gemixten Bibelsprüchen, überblenden soll.

Welch‘ eigentümlicher Kulturkampf! Der weitaus größte Teil der Weltbevölkerung gehört einer Religionsgemeinschaft an, aber in Berlin meint man, sich von Religionszeichen distanzieren und auf die Gefährlichkeit von Religion hinweisen zu müssen, und hält dies für einen Beitrag zu einem globalen kulturellen Dialog. Ist das nur und einfach deutscher Provinzialismus?

Der Berliner Streit ist durchaus komplexer Art und wurde und wird auf unterschiedlichen thematischen Feldern ausgefochten. Zunächst entzündete er sich an der Heilung einer Wunde im Herzen Berlins: Es geht um die historische Mitte der Stadt, ihre kostbarste Stelle, nämlich die Insel zwischen zwei Armen der Spree. Hier stand über drei Jahrhunderte hinweg das Stadtschloss der preußischen Könige, einer der großen barocken Säkularbauten in Deutschland. Im 2.Weltkrieg zu einem erheblichen Teil zerstört, nach dem Kriegsende aber trotzdem Herberge für Ausstellungen, wurde es auf Anordnung des kommunistischen Parteichefs der DDR,Walter Ulbricht, 1950 gesprengt – als Symbol des preußischen Militarismus. An dessen Stelle entstand ein Aufmarsch- und Paradeplatz. Ich habe dies immer als einen kulturbarbarischen Akt empfunden, an den die gähnende Leere des Ortes im Zentrum der Stadt bis in die 70er Jahre auf schmerzliche Weise erinnerte. Sie wurde Mitte der 70er Jahre gefüllt mit dem Bau des «Palastes der Republik» – das bauliche und kulturelle Vorzeigeprojekt der DDR. Er wurde Ort der Volkskammersitzungen und großer Veranstaltungen wie der SED-Parteitage und der Unterhaltungsrevuen «Ein Kessel Buntes». Auch wenn es wahrlich kein passendes Parlamentsgebäude war (wie sich 1990 mit der ersten freien Volkskammer zeigte), haben doch viele Menschen ganz freundliche Erinnerungen an «Erich Honeckers Lampenladen». Weil es darin ein buntes Unterhaltungsprogramm gab, subventioniertes Essen, eine funktionierende Kegelbahn und sogar Telefonzellen, aus denen man fast ohne Bezahlung mit dem Westen telefonieren konnte.

Dieser Palast musste – nach einer Entscheidung noch der letzten DDR- Regierung – wegen schwerer Asbestbelastung in den 90er Jahren abgerissen werden. Damit entstand eine neue Entscheidungssituation: Wiederaufbau des Palastes oder Neubau oder Wiedergewinn von Geschichte? Eine vom Deutschen Bundestag berufene internationale Expertenkommission (deren Mitglied ich als Bundestagspräsident war) hat nach langer und intensiver Diskussion den doppelten Vorschlag gemacht: (Teil-)Rekonstruktion von Kubatur und historischer Fassade des alten Schlosses und Unterbringung der reichen außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im innen modernisierten Schloss. Das Berliner Zentrum sollte ein Ort der Weltoffenheit, der Weltbezüge werden, für die der Name Humboldt steht! Neben die europäische Kulturgeschichte, die in den benachbarten Häusern der Museumsinsel präsentiert wird, sollte die globale Kulturgeschichte treten und zum lebendigen Austausch einladen. Nicht um ein Museum sollte es gehen, sondern um einen Ort kulturellen Dialogs und aktueller Kommunikation. Die Idee des Humboldt Forums war geboren und es war die Idee einer Verbindung von Alt und Neu, von Geschichte und Moderne.

Der Deutsche Bundestag machte sich den Kommissionsvorschlag zu eigen, fasste mit jeweils großer Mehrheit Beschlüsse zu Humboldt Forum und Berliner Schloss, zu einem Architekturwettbewerb, zur Finanzierung von Bau und Nutzung. Beschlüsse mit höherer Autorität sind in einer parlamentarischen Demokratie eigentlich nicht möglich. Trotzdem: Widerwillen und Abwehr, Häme und Kritik bei einem Teil der Öffentlichkeit, des Feuilletons, der Bürger blieben.

Inzwischen ist der Bau errichtet, die ethnologischen Schätze sind umgezogen und ausgestellt, eine wahre Fülle und Pracht, das Humboldt Forum ist eröffnet, beginnt zu leben – und bleibt dennoch Gegenstand von Kritik und Streit. Aber es hat inzwischen ein Themenwechsel stattgefunden: Die Idee des Dialogs der Kulturen ist in den Schatten des Postkolonialismus-Diskurses geraten, ein wohl unvermeidlicher Vorgang. Damit wird aus der intendierten Verbindung von Alt und Neu, von Geschichte und Moderne ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt, zwischen Außen und Innen, zwischen historischem Kleid und neuer Funktion. Und damit verändert sich auch der Blick auf Kreuz und Bibelspruch auf der Schlosskuppel, die Teil der historischen Rekonstruktion des Schlosses sind. Diese werden nunmehr interpretiert als Zeichen eines christlich legitimierten Kolonialismus, als Zurschaustellung westlicher Überlegenheit. Der in ihnen sichtbare christliche Herrschaftsanspruch verhindere einen offenen Dialog der Kulturen, weil Zeichen für «Paternalismus, Dominanz und Ausgrenzung», so die Staatsministerin Claudia Roth: «Das Humboldt Forum ist ja nicht der Vatikan». Deshalb wird auf der dem Publikum zugänglichen Dachterrasse eine historisch distanzierende Erläuterungstafel installiert und deshalb soll in einer Kunstaktion die (von unten kaum lesbare) Bibelinschrift nächtens überblendet werden mit Auszügen aus Grundgesetz und Menschenrechtserklärung.Welch Aufmerksamkeit für Kreuz und Bibelspruch! Welch Angst auch vor Geschichte.

Der Deutsche Bundestag hat etwas gewiss Widersprüchliches beschlossen, nämlich für einen modernen Zweck ein historisch teilrekonstruiertes Gebäude. Das gibt es allerdings anderswo auch: die Umwidmung herrschaftlicher Schlösser zu bürgerlichen Kultureinrichtungen. Aber das zwingt zur Klärung des eigenen, aktuellen Verhältnisses zum geschichtlichen Erbe! Zu diesem Erbe gehört hier eben auch ein Sakralbau – und die heute offensichtlich anstößige Tatsache, dass ein religiöses Symbol die Kuppel eines weltlichen Gebäudes krönt. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV., ein noch einigermaßen absolutistischer Herrscher und sehr frommer Christ zugleich, hatte ab 1844 in dem älteren Schloss eine Kapelle errichten lassen, nicht unüblich in Schlössern, und mit Kuppel und Kreuz und Bibelumschrift versehen. Diese Umschrift ist die Kombination zweier Bibelzitate und lautet: «Es ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind» (Apg. IV,12 und Philipper II,10). Dieses persönlich-demonstrativ religiöse Bekenntnis ist nun Anlass für Kritik und Distanzierung und wilde Interpretationen: Damit verherrliche sich der König als oberster Bischof seiner protestantischen Staatskirche, werde die Verbindung von Thron und Altar dokumentiert, alle Knie sollten sich letztlich vor dem «weißen Mann» beugen, das sei Zeugnis des Gottesgnadentums…

Welch Unfähigkeit und Unwille, religiösen Text und religiöses Zeichen noch zu verstehen und historisch angemessen zu lesen! Der preußische König war gewiss kein Demokrat und spielte in der deutschen Geschichte eine problematische Rolle. Aber Kreuz und Bibelzitat belegen eher nicht seinen absoluten Herrschaftsanspruch oder den des Christentums. Schließlich sollen alle Menschen, auch er als König, ihre Knie beugen vor Jesus Christus und ihm Rechenschaft geben. Der Kniefall nicht als politische Unterwerfung, sondern als Geste religiösen Respekts.

Ist solcherart religiöses Bekenntnis und ist die biblische Botschaft der Dialektik von Erniedrigung und Erhöhung, die im Kreuz symbolisiert ist, heute noch lesbar und verstehbar? Kann man ihnen mit Toleranz oder wenigstens mit historischem Verständnis begegnen? Darum geht es beim Berliner Streit.Wird die Erinnerung an die christliche Prägung unserer Geschichte, deren sichtbare Gegenwärtigkeit, inzwischen als so peinlich empfunden, dass man sich von ihr distanzieren muss? «Um die Toleranz ist es schlecht bestellt, wenn nicht einmal der Anblick eines 150 Jahre alten Textes ertragen wird, dem doch niemand zustimmen muss», meint Richard Schröder zurecht.

Und das Kreuz auf der Kuppel? Es wird zum Stein des Anstoßes. Es soll keinen Platz haben dürfen an einem Ort der Begegnung verschiedener Kulturen und Religionen, weil es nur noch als Zeichen von Herrschaft und Unterdrückung gelesen wird, gelesen werden darf? Trotz der Gewalt- und Kolonialgeschichte des Christentums, der sich die Christen zu stellen haben, wird man fragen dürfen, ob diese Interpretation des Kreuzes die einzig angemessene ist und ob mit diesem Zeichen nicht vielmehr auch eine andere Geschichte, eine ganz andere Botschaft verbunden ist. Es ist jedenfalls durchaus ein neuer und irritierender Absolutheitsanspruch, dass unter dem Zeichen des Kreuzes interkultureller und interreligiöser Dialog nicht möglich sein soll und deshalb das Humboldt Forum von dieser religiösen Zutat zu reinigen sei. Als geriete das Humboldt Forum sonst in Gefahr, ein Ort der Exekution christlicher Überlegenheit zu werden. Eine absurde Angst und eine erschreckende Vorstellung, ja Unterstellung, von einem dialogunfähigen, reaktionären Christentum! Christen sollten sich dagegen wehren dürfen und energisch widersprechen. Und darauf bestehen, dass institutionelle Bilderstürmerei und die Säuberung öffentlicher Orte nicht die Voraussetzung für friedliche kulturelle und weltanschauliche Pluralität und für interkulturellen Dialog sein müssen, sein dürfen. Der neutrale Staat (gerade auch als Träger des Humboldt Forums) hat weder das Recht noch die Pflicht zur Nivellierung vorhandener religiös-weltanschaulicher Pluralität. Es sei denn, es ginge nur noch um den allerkleinsten gemeinsamen Nenner – die Unsichtbarkeit von Religion und das Unsichtbarmachen von widersprüchlicher eigener Geschichte. Religions- und Meinungsfreiheit bedeuten allerdings nicht, von der Religion bzw. der Weltanschauung der Anderen nicht behelligt zu werden. Es sollte ebenso wenig eine Pflicht geben, den zu uns Kommenden ein geschichtlich-kulturell gesäubertes Land anbieten zu müssen.

Denn wer in Deutschland lebt bzw. in dieses Land gekommen ist, der befindet sich nicht in einem leeren Land, sondern in einem geschichtlich und kulturell umfassend geprägten Land, zu dessen Prägungen eben Christentum und auch Aufklärung gehören. Diese Prägung ist sichtbar in der Alltagskultur wie im Erscheinungsbild unseres Landes – vom Wochen- und Jahresrhythmus des Arbeitens und Feierns bis zur baulichen Sichtbarkeit der christlichen Religion z. B. auch und sogar an einem alten und wieder errichteten Schloss in Berlin. Gewiss, die weltanschaulich-religiöse Vielfalt nimmt zu durch Migration und durch kulturellen Austausch in einer entgrenzten Welt. Säkularisierungsprozesse befördern Religionsfremdheit oder -ablehnung. Aber folgert daraus die Pflicht des neutralen Staates, geschichtlich-kulturelle Prägungen liquidieren zu sollen? Eher sollte es seine Pflicht sein, zum Respekt gegenüber dieser Prägung einzuladen, aber ebenso zur Mitwirkung an deren lebendiger Veränderung und Weiterentwicklung.

Der einzelne Mensch mag eine Erbschaft ausschlagen können, eine Gesellschaft kann es nicht. Sie muss das kulturelle Erbe annehmen, daran anknüpfen, sich mit ihm auseinandersetzen, es pflegen und verwandeln. Eine Gesellschaft ist immer auch eine Erinnerungsgemeinschaft, das Erinnern ein wesentlicher Teil von Kultur. Das kann auch eine Last sein: Zu Deutschland gehört die Erinnerung an den Holocaust – eine Erbschaft, die nicht auszuschlagen ist!

Der Staat, auch der säkulare Staat, ist ein Abstraktum gegenüber der Kultur. Diese ist ja ein immer geschichtlich geprägtes Ensemble von Lebens-Stilen, Lebens-Praktiken, von Überlieferungen, Erinnerungen und Erfahrungen, von Einstellungen und Überzeugungen, von ästhetischen Formen und künstlerischen Gestalten. Als solche prägt Kultur die Identität einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation. Die Kultur und darin insbesondere die Künste schaffen Erfahrungsräume menschenverträglicher Ungleichzeitigkeit, in denen die Menschen jenseits ihrer Marktrollen – der Markt kennt uns ja nur als Produzenten und Konsumenten – agieren und sich wahrnehmen können. Hier, in der Kultur, wird über Herkunft und Zukunft, über das Bedrängende und das Mögliche, über Sinn und Zwecke, über das Eigene und das Fremde reflektiert, kommuniziert, gespielt und gehandelt. Kultur ist eben mehr als normativer Konsens, als kollektive Werteübereinstimmung. Das mag sie alles auch sein, aber Kultur ist vor allem Raum der Emotionen, der Artikulation und Berührung unserer Sinne, Raum des Leiblichen, des Sichtbaren wie des Symbolischen – und darin auch und gerade des Religiösen und des Weltanschaulichen. Sie ist der Ort der Differenzen, ihrer Schärfung und ihrer Milderung zugleich.

Kultur aber ist immer – es gibt kein geschichtliches Gegenbeispiel – religions- und weltanschauungsdurchwirkt. Wie es auch umgekehrt Religion und Weltanschauung immer nur in geschichtlich-kulturell geprägter Gestalt gibt. Der gegenüber der Kultur unweigerlich abstrakte Staat – mit seinem Institutionengefüge und Regelwerk, dem Funktionieren seiner administrativen Strukturen – würde als Bilderstürmer nicht mehr neutral sein, sondern zugleich religionsfeindlich und kulturfeindlich werden. Positiv gewendet: Religionsfreundlichkeit und Kulturfreundlichkeit sind nicht gänzlich voneinander zu trennen. Deshalb muss der Staat seine Grenzen kennen, nichtautoritäre Zurückhaltung gegenüber Kultur und Religion üben, muss um Abwägungen, Ausgleiche,Anerkennungen bemüht sein und weniger mit Verboten oder Säuberungsaktionen auf kulturell-religiöse Konflikte reagieren. Daran ist zu erinnern angesichts des Streits um Kuppelkreuz und Bibelspruch auf dem Berliner Schloss. Eine Gesellschaft der Diversität und des Respekts ist keine der Nivellierung, sondern eine Gesellschaft sichtbarer Vielfalt – von Kultur und von Religion! Genau das sollte und könnte an einem Ort praktiziert werden, der dem Dialog der Kulturen und der globalen Kommunikation gewidmet ist.

Das Eigene (darf man dieses Wort noch verwenden?) sollte sichtbar sein und bleiben können: Das Kreuz steht auch für die widersprüchliche «westliche» Freiheitsgeschichte, für die konfliktreiche Entstehungs- und Verwirklichungsgeschichte der Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten. An deren christliche Prägung zu erinnern bedeutet keine Exklusion von Menschen anderer Kulturen, denn die errungenen Rechte und Freiheiten gelten für alle, sind Grundlage einer gemeinsamen politischen Kultur und unabdingbare Voraussetzung für friedliches Zusammenleben und kulturellen Dialog.

Was wären das für Gastgeber, die peinlich berührt die eigene Geschichte verleugneten, den Unschuldsengel spielten, wie Schlemihl schattenlos aus der Vergangenheit kommen wollten und Mimikry betrieben, um möglichst unkenntlich und möglichst wenig anstößig zu sein! Das wäre wirklich nur deutscher Provinzialismus.

Dieser Artikel erschien zuerst in COMMUNIO – Internationale Katholische Zeitschrift.

Autor*in
Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse, geb. 1943, war von 1990 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1998 bis 2005 dessen Präsident; Sprecher des Arbeitskreises „Christen in der SPD“.