Dieser Artikel ist Teil des Features „… eine Welt, in der Kolonialität nicht mehr möglich ist.

Der Kaiser, das Berliner Schloss und der deutsche Kolonialismus

47 Min Lesezeit

Am 8. Juni 2023 fand im Rahmen der Reihe ORTS-Termin ein Gespräch statt, das der Frage nachging, welche Rolle Kaiser Wilhelm II. und das Berliner Schloss für den deutschen Kolonialismus spielten. Der Historiker Jonas Kreienbaum und Alfred Hagemann, Leiter des Bereichs Geschichte des Ortes, präsentierten erste Ergebnisse einer Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die die Bedeutung des Ortes, an dem sich das Humboldt Forum befindet, für die deutsche Kolonialgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Hier finden Sie die sprachlich überarbeitete und gekürzte Fassung des Gesprächs zum Nachlesen.

 

Die Koloniale Amnesie in Deutschland

Alfred Hagemann: Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind. Herzlich willkommen im Humboldt Forum, herzlich willkommen zum ORTS-Termin.

In den letzten Jahren ist sehr deutlich geworden, dass der deutsche Kolonialismus in der öffentlichen Wahrnehmung der eigenen Geschichte in Deutschland bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren hat. Auch wenn sich Historiker und Historikerinnen seit Jahrzehnten intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, ist es in der breiteren Öffentlichkeit, auch im Ausstellungswesen und in den Medien, kein sehr großes Thema gewesen. Das hat sich seit ein paar Jahren verändert und wir sind im Humboldt Forum sehr interessiert daran, diese Entwicklungen aktiv zu begleiten. Gerade an diesem Ort stellt sich die Frage nach der Bedeutung des deutschen Kolonialismus ganz besonders. Das liegt einerseits natürlich an den internationalen Kulturgütern des Ethnologischen Museums, die heute hier im Haus präsentiert werden. An ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Herkunft und auch ihrer Zukunft. Und es liegt auch an diesem Ort selbst, an der Hülle des rekonstruierten Schlosses. Hier haben Fürsten, Könige und Kaiser residiert, die Kolonialpolitik in Deutschland gemacht haben. Wir stehen bei unserer Beschäftigung damit noch am Anfang. Wie viele andere Institutionen sind wir gerade dabei, uns stärker damit auseinanderzusetzen.

 

Ich freue mich deshalb, erste Ergebnisse unserer Arbeit heute Abend mit Ihnen zu teilen und zu diskutieren. Der Bereich Geschichte des Ortes hat in den letzten Jahren begonnen, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten, um die koloniale Vergangenheit konkret dieses Ortes in den Blick zu nehmen und zu beleuchten. Dabei haben wir uns entschieden, einen ersten Schwerpunkt auf die Kaiserzeit zu legen, der sicherlich bekanntesten und auch ausgedehntesten Phase des deutschen Kolonialismus. Zu diesen knapp 40 Jahren zwischen 1884 und 1918 gibt es durchaus viel Forschung, aber insbesondere die Rolle Kaiser Wilhelms II. und des Berliner Schlosses als einem zentralen Symbolort des Deutschen Reiches waren bisher nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Deshalb freut es mich, Ihnen Dr. Jonas Kreienbaum vorzustellen, der mit uns gemeinsam im letzten Jahr zu diesem Thema gearbeitet hat.

Wir haben im letzten Jahr verschiedene Institute kontaktiert und gefragt, in welcher Form wir uns als Humboldt Forum mit diesem Thema auseinandersetzen sollten. Es gibt ja eine ganze Reihe von Lehrstühlen in Deutschland, die sich mit Kolonialgeschichte befassen. Und wir haben uns sehr gefreut, dass Sie, lieber Herr Kreienbaum, sich prompt gemeldet haben, wir in einen intensiven Kontakt getreten sind und in der Folge einen Forschungsauftrag an Sie vergeben konnten. Die Ergebnisse Ihrer ersten Forschungen wollen wir heute präsentieren. Dabei sind wir uns einig: Das ist ein erster Schritt. Wir versuchen eine Haltung zu diesem Themenkomplex zu entwickeln und nächste Forschungsschritte zu eruieren. Vielleicht können Sie selbst kurz erläutern, was Sie mit dem Thema, insbesondere auch mit Wilhelm II., verbindet.

Jonas Kreienbaum: Gerne. Wenn wir uns die drei Themenschwerpunkte, die im Titel vorkommen, anschauen – der Kaiser, das Schloss und der deutsche Kolonialismus – dann ist für mich ganz klar, dass die Kolonialismusforschung der Bereich ist, aus dem ich komme. Ich habe hier um die Ecke an der Humboldt Universität studiert. Und es hat eine Weile gebraucht, bis ich – eher gegen Ende des Studiums – in einem Seminar das erste Mal von dem Kolonialkrieg und Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, gehört habe. Das war für mich ein augenöffnender Moment, vor allem, weil ich in der Schule und auch über mehrere Jahre an der Uni nichts darüber erfahren hatte. Das sagt natürlich viel über die gesellschaftliche koloniale Amnesie aus.

Damals, in diesem Seminar, ging es sehr stark um die Frage nach Verbindungen zwischen Kolonialgewalt und späterer nationalsozialistischer Gewalt, um mögliche Verbindungen von kolonialen Genoziden zum Holocaust. Das ist ein Gedanke, der umgehend mein Interesse geweckt hat und der dann auch der Ausgangspunkt dafür war, mich in meiner Dissertation mit kolonialen Konzentrationslagern zu beschäftigen, wo sich die Frage nach möglichen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus aufdrängt. Seitdem habe ich ein sehr starkes Interesse an Kolonialgeschichte, habe dazu geforscht und publiziert. Das ist sicherlich auch der Grund, warum Sie vor einem Jahr auf mich zugekommen sind, und der Grund, warum ich heute an diesem Ort bin.

Hagemann: Wir haben zu Beginn unserer gemeinsamen Gespräche darüber reflektiert, dass die Entscheidung, einen weißen deutschen Historiker zu engagieren, natürlich nur eine ganz bestimmte, durchaus eingeschränkte Perspektive auf die Kolonialgeschichte mit sich bringt. Deshalb wiederhole ich auch noch einmal, dass es sich nur um einen ersten Schritt handeln kann. Es braucht im Folgenden ganz sicher eine Öffnung, um weitere Perspektiven auf dieses Thema zu erreichen.

Herr Kreienbaum, was hat Sie speziell an der Frage nach der Rolle des Kaisers eigentlich gereizt?

Kreienbaum: Mit dem Kaiser habe ich mich vor diesem Projekt eher am Rande beschäftigt. Was ich faszinierend finde an der Person des Kaisers, ist, dass über ihn seit Jahrzehnten intensiv geschichtswissenschaftlich geforscht wird. Es sind auch unglaublich viele Quellen überliefert, die über ihn Auskunft geben. Aber es gibt überhaupt keinen Konsens unter Geschichtswissenschaftler*innen, wie die Rolle des Kaisers im Kaiserreich zu bewerten ist. Die eine Seite, etwa der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, hat ihn als „Schattenkaiser“ bezeichnet. Wehler hat argumentiert, dass Wilhelm eigentlich gar kein zentraler politischer Akteur war. Die Gegenposition nimmt der sehr prominente britische Historiker John C. G. Röhl ein, der schreibt, im Kaiserreich habe der Kaiser ein „persönliches Regiment“ geführt und keine zentrale Entscheidung habe ohne ihn getroffen werden können.

Im Rahmen meiner früheren Beschäftigung mit Deutsch-Südwestafrika konnte ich mit Blick auf die Forschung eine ähnliche Divergenz feststellen. Zwar sind sich nahezu alle Historiker*innen einig, dass in Namibia ein Völkermord stattfand. Aber geht der eigentlich vor allem auf den Kaiser zurück? Gibt er den Befehl zum Völkermord? Oder ist er vielleicht nur ein randständiger Akteur? Das sind Fragen, die umstritten sind.

Der australische Historiker Matthew Fitzpatrick ist nun der erste, der sich in seinem sehr guten und sehr zu empfehlenden Buch „The Kaiser and the Colonies“ (1) systematisch mit der Frage nach Kaiser Wilhelm II. und dem deutschen Kolonialismus beschäftigt hat. Aber es ist gerade erst ein Anfang gemacht in diesem Forschungsfeld.

 

„The Kaiser’s Holocaust“? – Die Rolle Kaiser Wilhelms II. im deutschen Genozid an den Herero und Nama

Hagemann: Vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Forschungsbiografie ist es naheliegend, dass Sie sich in Ihrer Arbeit für das Humboldt Forum in einem ersten Schwerpunkt mit der Bedeutung des Kaisers für den deutschen Genozid an den Herero und Nama beschäftigt haben. Vielleicht können Sie für uns erläutern, wie Sie diese Frage bewerten.

Kreienbaum: Mein Ausgangspunkt ist die These einiger Autoren, der Kaiser sei der Urheber des Genozids, er habe den direkten Befehl gegeben, alle Herero in der Kolonie umzubringen. Ich bin ein bisschen skeptisch, was diese Form der Interpretation angeht. Nicht weil ich nicht meinen würde, dass es sich um Völkermord gehandelt habe, sondern weil ich in Hinblick auf die Rolle des Kaisers Zweifel habe, dass die Geschichte so einfach ist.

Was wir feststellen können, ist, dass der Kaiser eigentlich nur zweimal direkt in diesen Krieg und Genozid eingreift. Das erste Mal findet im Mai 1904 statt. Der Krieg hatte im Januar im Zentrum der Kolonie begonnen. Es ist ein Krieg zwischen der Volksgruppe der Herero und dem deutschen Kolonialreich. Später kommt noch ein zweiter Krieg im Süden mit verschiedenen Nama-Gruppen hinzu. In Berlin ist man relativ schnell unzufrieden damit, wie dieser Krieg läuft und die Idee kommt auf: Wir müssen den Oberbefehlshaber, das war bisher der amtierende Gouverneur, ersetzen und einen neuen Mann an seine Stelle setzen. Es gibt eine Art Krisentreffen in Berlin, auf dem der Kaiser seinen Kandidaten durchdrückt: Lothar von Trotha. Der Kaiser setzt sich damit gegen die zivilen Stellen durch: gegen den Reichskanzler und gegen den Chef des Reichskolonialamtes, aber auch gegen verschiedene militärische Stellen, also gegen den Chef des Generalstabs und gegen den Kriegsminister. Offensichtlich hat er eine ziemliche Durchsetzungskraft während dieser Krisensitzung.

Man muss aber sagen, Trotha ist keine ungewöhnliche Wahl. Er hat eine Menge kolonialer Erfahrung. Er war vorher in den 1890er Jahren in Ostafrika, also einem Gebiet, das heute vor allem in Tansania liegt. Er war während des Boxerkrieges von 1900/01 in China. In beiden Fällen ist er als ein harter Militär in Erscheinung getreten. Aber er ist nicht als Genozidär aufgefallen, als jemand, der immer auf totale „Ausrottung“ setzen würde. Mit anderen Worten, als der Kaiser Trotha beruft, kann er nicht davon ausgehen, dass er jemanden nominiert, der unbedingt das Ziel haben würde, alle Herero und alle Nama umzubringen.

Hagemann: Wie agiert dann Trotha in Namibia und wie konnte es zu dieser Gewalteskalation kommen?

Kreienbaum: Als Trotha im Juni 1904 in der Kolonie ankommt, führt er den Krieg zunächst tatsächlich nicht mit dem Ziel Völkermord, sondern er will ihn mit einer großen Schlacht am Waterberg, relativ in der Mitte der Kolonie, entscheiden. Und bevor diese Schlacht losgeht, lässt er große Gefangenenlager errichten für ungefähr 6000 bis 8000 Gefangene. Das entspricht der Zahl der Herero-Kombattanten und spricht dafür, dass Trotha zunächst Gefangene machen und nicht alle töten will. Die wirklich genozidale Phase beginnt erst nach der Schlacht am Waterberg, weil diese aus deutscher Sicht fehlschlägt.

 

Die Herero entfliehen aus der deutschen Einkesselung nach Osten in die Omaheke-Wüste. Die Deutschen verfolgen sie, können sie aber nicht mehr zu einem erneuten Kampf stellen. Und erst in dieser Situation, als Trotha eingestehen muss, dass seine Strategie vollkommen fehlgeschlagen ist, da erlässt er den sogenannten „Vernichtungsbefehl“. Darin weist er seine Truppen an, keine Gefangenen mehr zu machen, auf alle Herero zu schießen, egal ob kampffähige Männer, Frauen, Kinder oder Alte und sie entweder direkt zu erschießen oder in die Wüste zurückzujagen, wo sie höchstwahrscheinlich verdursten und verhungern mussten. Dieser Befehl ist in der Forschung völlig zu Recht als Genozidbefehl interpretiert worden.

Dann kommt der Punkt, an dem der Kaiser das zweite Mal in diesen Prozess eingreift, nämlich als ein paar Wochen später, wahrscheinlich Mitte November 1904, der „Vernichtungsbefehl“ in Berlin bekannt wird. Nun wenden sich der Reichskanzler und der Chef des Generalstabs an Wilhelm II. und fordern ihn auf, diesen Befehl zurückzunehmen. Der Kaiser ist der einzige, der das konstitutionell machen darf. Es gibt unterschiedliche Überlieferungen, doch vermutlich dauert es fünf Tage, ehe der Kaiser seine Zustimmung gibt und der Befehl aufgehoben wird.

Hier setzen verschiedene Deutungen an. Die einen verstehen diese Verzögerung als Zeichen, dass Wilhelm II. Trothas Vernichtungskrieg befürwortet und deswegen den Befehl nur widerwillig zurücknimmt. Andere argumentieren, dass der Kaiser gar nicht vor Ort und mit anderen Sachen beschäftigt ist, und ohnehin jegliches Interesse an dem Krieg verloren hat. Deswegen habe es fünf Tage gedauert, bis er den Befehl zurücknimmt. In jedem Fall können wir festhalten, dass er ihn aufhebt.

Das sind die einzigen beiden Momente, in denen der Kaiser unmittelbar in diesen Krieg eingreift. Und es spricht in den Quellen nichts dafür, dass er Trotha einen direkten Vernichtungsbefehl mitgab, als er ihn in die Kolonie schickte. Insofern bin ich skeptisch, dass die einfache Erzählung zutrifft, dass alles auf den Kaiser zurückgeht. Ich glaube, es macht sehr viel mehr Sinn, den Genozid als einen komplexen Prozess zu verstehen, in dem der Kaiser natürlich eine Rolle spielt, aber Trotha vermutlich die größere. Dazu kommen aber noch viel mehr Akteure, bis hin zu den einfachen Soldaten, den Unteroffizieren und so weiter.

Hagemann: Es ist also offensichtlich etwas vereinfachend, von „The Kaiser´s Holocaust“ zu sprechen, wie es der Titel des Buches von David Olusoga und Casper Erichsen aus dem Jahr 2010 postuliert. (2) Ich befürchte, wir können es uns nicht so leicht machen zu denken, die Verantwortung für den Völkermord in Namibia läge bei Kaiser Wilhelm II. und der Rest der deutschen Gesellschaft habe nichts damit zu tun gehabt. Vielmehr haben Sie gezeigt, dass ein ganzer Apparat von Regierungsabteilungen und militärischen Stellen daran beteiligt war, dass es zu diesem Völkermord kam.

 

Die Gewalt der Sprache

Hagemann: Im Kontext dieser Gewalteskalation hat es mich insbesondere sehr erschüttert, mit welcher Sprache in den Quellen, mit denen Sie gearbeitet haben, in den deutschen Regierungskreisen und auch mit dem Kaiser über den Krieg in Namibia kommuniziert wird. Selbst wenn es keinen direkten Befehl zum Genozid gab, das permanente Sprechen von „Vernichtung“, „Ausrottung“ und „Eliminierung“ drückt ein ungeheures Gewaltpotential aus.

Was diese Sprache angeht, welche Rolle spielt da der Kaiser?

Kreienbaum: Ich glaube, dass der Kaiser im sprachlichen Bereich am deutlichsten zu dem sich entwickelnden Genozid beiträgt. Er ist berühmt dafür, sehr martialisch aufzutreten – auch sprachlich – und das berühmteste Beispiel ist die sogenannte „Hunnenrede“. Während des Boxerkriegs verabschiedet der Kaiser im Juli 1900 in Bremerhaven seine Soldaten und hält eine Rede. In der berüchtigtsten Passage dieser Rede sagt er folgendes: „Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand.“ Im Grunde fordert er die Soldaten auf: Macht keine Gefangenen! Bringt alle um, auf die ihr trefft, was zumindest an der Grenze zu einer genozidalen Aufforderung liegt. Es haben verschiedene Historiker*innen darauf hingewiesen, dass das kein Befehl sei, sondern eine Abschiedsrede. Stimmt alles. Aber trotzdem glaube ich, dass solche Aussagen bei kolonialen Militärs den Eindruck erweckt haben, an allerhöchster Stelle wird brutales, wenn nicht sogar genozidales Vorgehen toleriert, sogar gewünscht. Und ich glaube, genau auf dieser Ebene trägt der Kaiser dazu bei, einen diskursiven Rahmen zu schaffen, der diesen Völkermord denkbar und dann ausführbar werden lässt.

Zweitens kann man hinzufügen, dass der Kaiser auf einer symbolischen Ebene stark in den Völkermord involviert ist. Ich glaube, das wird nirgends so deutlich, wie wenn wir uns den „Vernichtungsbefehl“ Trothas anschauen. Der unterschreibt ihn nämlich, und das ist kein Zufall, mit der Formel „Der große General des mächtigen deutschen Kaisers“. Diese Vernichtungspolitik wird also im Namen des Kaisers durchgeführt und das ist ganz typisch für den kolonialen Kontext, wo das Deutsche Reich immer wieder in der Person des Kaisers symbolisiert wird.

Hagemann: Ja, ich denke, das sind Aspekte, die man beim Sprechen über Wilhelm II. beachten muss: Er ist zum einen Symbolfigur des Deutschen Reiches. In den Kolonien wird Politik in seinem Namen gemacht, häufig unter seinem Bild. Und er verkörpert das Deutsche Reich in seinen Ambitionen. Neben dieser Symbolfigur gibt es aber auch Wilhelm als Person mit einer ganz bestimmten politischen Meinung und einer politischen Agenda.

 

Kolonialpolitik in Afrika vs. „Weltpolitik“ in Ostasien

Hagemann: Sie führen aus, dass an vielen Stellen der Eindruck entsteht, der Krieg im heutigen Namibia hätte Wilhelm II. nicht sonderlich interessiert und generell sei zu beobachten, dass das Interesse des Kaisers – und da spreche ich jetzt von Wilhelm als Person mit einer politischen Agenda – an kolonialen Projekten geringer war im Verhältnis zu anderen Politikfeldern. Woran machen Sie das fest?

Kreienbaum: Da kann ich an das anknüpfen, was ich gerade schon ausgeführt habe. Ganz deutlich wird das, als der „Vernichtungsbefehl“ in Berlin bekannt wird. In diesem Moment wird Wilhelm nicht aus eigenem Antrieb aktiv, sondern er muss vom Reichskanzler und vom Generalstabschef dazu gedrängt werden, irgendetwas zu tun. Das zeigt schon mal sein Desinteresse. Es gibt ein recht bekanntes Tagebuch der Baronin Spitzemberg, die in Hof-Kreisen ziemlich gut vernetzt und informiert war. Darin schreibt sie an verschiedenen Stellen, dass der Kaiser schon im Frühling 1904, als der Krieg erst ein paar Wochen alt war, völlig das Interesse verliert. Und ein paar Wochen später notiert sie, dass in Anwesenheit des Kaisers überhaupt niemand mehr über diesen Krieg reden darf. Das Thema nervt ihn offensichtlich. Ich glaube, das zeigt sehr deutlich, dass er das Interesse, wenn er es je hatte, schnell verloren hat.

Das kaiserliche Desinteresse betrifft nicht nur diesen speziellen Krieg, sondern es finden sich aus verschiedenen Jahren und Jahrzehnten der kaiserlichen Regentschaft immer wieder Zitate, die genau in so eine Richtung gehen. Er sagt etwa während der Marokkokrise von 1905, er habe gar kein Interesse daran, dass Deutschland einen Teil von Marokko als Kolonie bekommt. Ein anderes Mal erklärt er: Ich würde sofort alle Kolonien in Afrika aufgeben, wenn ich dafür einen guten Stützpunkt in Asien bekommen könnte. Ich glaube, da wird sehr deutlich, dass ihn Kolonialpolitik zumindest für lange Phasen, wenn es um Kolonialpolitik in Afrika oder im Südpazifik geht, nicht groß interessiert. Anders scheint das zu sein, wenn es um das geht, was er „Weltpolitik“ nennt, und was ich eher in Ostasien verorten würde.

Hagemann: Kolonialpolitik ist also nicht um ihrer selbst willen für den Kaiser von Interesse, sondern als Teil einer „Weltpolitik“, die eine imperialistische deutsche Präsenz in der Welt anstrebt und wozu Kolonien natürlich auch gehören können. Sie haben gerade schon von Ostasien gesprochen. Wenn Sie da noch mal auf ein Beispiel eingehen würden, bei dem der Kaiser sehr aktiv in ein koloniales Projekt eingreift?

Kreienbaum: Auffallend bei diesen Forschungen war festzustellen, dass wir den Kaiser, was Namibia angeht, nur sehr selten als aktive Person erleben können. In China scheint hingegen das genaue Gegenteil richtig. Die Geschichte, wie Kiautschou eine deutsche Kolonie wird, lässt sich tatsächlich sehr gut über den Kaiser erzählen und zwar anekdotenhaft.

 

Der Kaiser sitzt Anfang November 1897 im Neuen Palais in Potsdam und liest in der Zeitung, dass zwei deutsche katholische Missionare ermordet worden sind. Daraufhin wird er aktiv, telegrafiert an das Auswärtige Amt und an den Reichskanzler: „Hierfür [für die Ermordung] muß ausgiebige Sühne durch energisches Eingreifen der Flotte geschafft werden. Das Geschwader muß augenblicklich nach Kiautschou fahren, dort befindliche chinesische Ortschaft besetzen und mit schwersten Repressalien drohen, wenn nicht augenblicklich Seitens der chinesischen Regierung ein in Geld zu bemessender hoher Schadenersatz geleistet sowie Verfolgung und Bestrafung der Verbrecher wirklich effectuirt wird.“ (3) Nur einen Tag später telegrafiert er dann dem Kommandeur des Ostasiatischen Kreuzergeschwaders, also des in Ostasien stationierten deutschen Flottenverbands, und ordnet an Kiautschou zu besetzen, und das passiert dann auch. Hier ist der Kaiser offensichtlich ein Impulsgeber. Er greift in den politischen Prozess ein.

 

 

Allerdings sollte man nicht davon ausgehen, es handle sich um eine Kurzschlussreaktion oder einen kaiserlichen Alleingang. Vielmehr wird deutlich, dass es eine abgestimmte Politik mit dem Auswärtigen Amt und dem Reichsmarineamt gibt. Alle sind sich einig: Wir brauchen einen Flottenstützpunkt irgendwo in Ostasien und mittlerweile hatte man sich auf Kiautschou geeinigt. 1897 warten die Entscheidungsträger im Grunde nur noch auf einen Vorwand für die Besetzung. Die politischen Linien sind klar und der Kaiser folgt diesen Linien. Hätte er das nicht getan – und das hat Matthew Fitzpatrick in seinem bereits erwähnten Buch, wie ich finde, sehr schön herausgearbeitet – wäre die Geschichte wohl ganz anders verlaufen. Fitzpatrick verweist auf ein anderes Beispiel, nämlich dass der Kaiser ein Jahr zuvor schon einmal fast die gleichen Instruktionen gegeben hat. Damals geht es nur um einen anderen Stützpunkt, nämlich Amoy. Und in dem Moment passiert gar nichts. Und warum passiert nichts? Weil das Auswärtige Amt das für eine ganz dumme Idee hält. Das Auswärtige Amt ignoriert den Befehl des Kaisers, wenn man hier von einem Befehl sprechen kann, weil es sonst Riesenärger mit England befürchtet. Das zeigt, finde ich, ziemlich gut: Der Kaiser ist im Falle von Kiautschou definitiv ein wichtiger Akteur, ein Impulsgeber, der den Prozess beschleunigt. Aber alleine handelt er nicht und alleine kann er vielleicht auch gar nicht handeln.

Hagemann: Das ist ja wirklich erstaunlich. Verfassungsgemäß war der Kaiser der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte – wie ist es denn da möglich, dass ein Ministerium den Befehl des Kaisers einfach ignoriert? Da stellt sich wieder die Frage, die Sie am Anfang auch schon aufgegriffen haben: Welche Rolle hatte Wilhelm II. im politischen System? Und offenbar gibt es einen Unterschied zwischen der verfassungsgemäßen Stellung des Kaisers und der tatsächlichen Durchsetzung dieser Kompetenzen in einem sehr komplexen Machtgefüge.

Kreienbaum: Das greift genau die großen alten Fragen der Forschung wieder auf: Was ist die Stellung des Kaisers? Klar ist für mich, dass ich nach dieser Beschäftigung mit einigen Ereignissen der Kolonialgeschichte keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage geben kann. Aber mit Blick auf die verschiedenen von mir untersuchten kolonialen Episoden kann ich feststellen, dass die Antwort sehr unterschiedlich ausfällt, je nachdem ob wir etwa auf Kiautschou oder auf Namibia schauen. Einerseits spricht die Amoy-Geschichte, wo eigentlich nichts passiert, dafür, dass die Schattenkaiser-Interpretation nicht ganz abwegig ist. Andererseits stößt er die Besetzung Kiautschous an und schaltet sich auch später immer wieder ein. Er versucht, den Prozess immer weiter zu beschleunigen. Das zeigt schon, dass er Interesse und auch einen gewissen Spielraum hat. Vor allem aber wird seine Handlungsfähigkeit deutlich, als er das eine Mal freiwillig in Namibia eingreift, nämlich als es um die Nominierung von Trothas geht. Das passt übrigens gut zu dem, was schon viele Jahre der Forschung unterstrichen haben: dass der Kaiser, wenn es um Nominierungsfragen geht und vor allem, wenn es um Nominierungen beim Militär geht, wirklich am längsten Hebel sitzt. Hier führt kaum ein Weg an ihm vorbei und er ist sehr effektiv darin, sich gegen alle anderen beteiligten Instanzen, die ich vorhin genannt habe, durchzusetzen und seinen Kandidaten Trotha zu installieren.

Hagemann: An dieser Stelle lohnt es sich vielleicht, sich einmal die Ausstattung des Berliner Schlosses unter Wilhelm II. anzuschauen. Als Kunsthistoriker habe ich neben dem Blick in die Schriftquellen auch die Möglichkeit, Objekte und ihre Präsentation zu befragen. Und tatsächlich kann man da recht gut beobachten, dass Ihre Aussage von vorhin sich auch in der Ausstattung spiegelt.

In der Wohnung Wilhelms II. im Berliner Schloss erkennt man einen deutlichen Schwerpunkt: die Flotte. Ein Beispiel, dass das sehr gut illustriert, ist das Silberschiff, das wir heute im Humboldt Forum als eine sogenannte Spur zur Geschichte des Ortes präsentieren. Es ist eines von einer größeren Gruppe silberner Schiffsmodelle, die der Kaiser und seine Ehefrau 1906 zur Silbernen Hochzeit geschenkt bekommen haben. Auf einem historischen Foto sind die Schiffe in Vitrinen zu erkennen, die im Sternsaal der kaiserlichen Wohnung standen.

Auf den ersten Blick ist das sehr dekorativ und hübsch, weil es wirklich beeindruckende Kunstwerke sind. Auf den zweiten Blick ist es aber eine hochpolitische Sache, weil diese Modelle das Geschenk einer Lobbygruppe waren: deutsche Marineverbände, Reedereien, Werften, aber auch Ruderclubs und Segelvereine hatten sich für die Finanzierung zusammengetan. Also gesellschaftliche Institutionen, die sich damals sehr für die deutsche Flottenpolitik stark gemacht haben. Das Geschenk sollte den Kaiser in der Überzeugung bestärken, dass eine starke Flotte das entscheidende Element sei, um Deutschland zu Weltgeltung und Respekt zu verhelfen. Zum Zeitpunkt des Geschenks der Silberschiffe begann die große militärische Marineaufrüstung des Deutschen Reiches – in direkter Konkurrenz zu Großbritannien, auf dessen damals alle Meere beherrschende Flotte Wilhelm mit großem Neid blickte.

Die politische Bedeutung der Flottenpolitik drückt sich in der Ausstattung mit Kunstwerken im kaiserzeitlichen Schloss vielfach aus: Es gibt beispielsweise den Marinesaal mit Gemälden moderner deutscher Kriegsschiffe und im Arbeitszimmer des Kaisers ist die Flotte des Großen Kurfürsten auf Gemälden dominant – ein Versuch, die eigene maritime Tradition historisch zu untermauern.

 

Audienz und „Völkerschau“ – Besuche von Persönlichkeiten aus den Kolonien im Berliner Schloss

Hagemann: Neben der Ausstattung des Schlosses stellt sich aber natürlich auch die Frage nach der Bedeutung dieses Ortes als Handlungs- und Entscheidungsort der Kolonialpolitik. Da haben Sie sich vor allem mehrere Besuche von Politikern aus kolonialen Kontexten angeschaut.

Kreienbaum: Ja, das entspringt dem Versuch zu überlegen, wie das Berliner Schloss eigentlich mit dem kolonialen Projekt zusammenhängt. War das Berliner Schloss vor 1918 auch ein Ort, an dem Kolonialpolitik stattfand? Ich denke, am deutlichsten wird das, wenn Kolonisierte vom Kaiser zu Audienzen im Berliner Schloss empfangen worden sind.

Dafür gibt es verschiedene Beispiele und ich habe mir zwei herausgesucht, die ich mir etwas intensiver angeschaut habe. Das erste Beispiel ist der Besuch Tupua Tamasese Lealofis. Er ist ein Adliger, ein chief aus dem westlichen Teil Samoas, der seit 1900 eine deutsche Kolonie war. Tamasese hält sich in den Jahren 1910/11 in Deutschland auf und wohnt Anfang Juni 1911 auf Einladung des Kaisers der Frühjahrsparade des Gardecorps auf dem Tempelhofer Feld in Berlin bei. Anschließend empfängt Wilhelm Tamasese im Schloss zu einer Audienz.

Das zweite Beispiel ist der Empfang Friedrich Mahareros. Er hielt sich ungefähr 15 Jahre zuvor in Berlin auf und ist gemeinsam mit drei anderen Personen aus Deutsch-Südwestafrika im Schloss mit dem Kaiser zusammengetroffen.

Sehr spannend finde ich, dass beide Fälle eine ganze Reihe von Parallelen aufweisen. Zunächst einmal ging die Initiative zu beiden Deutschlandbesuchen und zu den Audienzen keinesfalls vom Kaiser aus, sondern jeweils von den kolonisierten Akteuren – ein bemerkenswerter, wenn nicht überraschender Umstand. Tamaseses Situation ist 1910/11 folgende: Er erwartet, dass ein ganz wichtiger Posten in Samoa, der des Ali’i Sili, des höchsten einheimischen Würdenträgers, bald neu zu vergeben sein wird. Da er ein aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge ist, überlegt er, was er tun kann, um seine Chancen weiter zu vergrößern. Sein Kalkül ist, dass ein Treffen mit dem Deutschen Kaiser ihm in der Ernennungsfrage einen großen Vorteil bringen würde. Und das war der Hintergrund, warum er auf eine Audienz drängt.

Friedrich Maharero wiederum ist der Sohn von Samuel Maharero, dem Herero-Führer, der einige Jahre später den Krieg gegen die Kolonialmacht anführen sollte. 1894 ist Samuel Maharero in der Situation, dass er sich gerade eben erst auf der Position des chiefs etabliert hat, und zwar mit der aktiven Hilfe der deutschen Kolonialmacht. Er sieht in einem Besuch seines Sohnes Friedrich beim Kaiser die große Chance, das zu diesem Zeitpunkt gute Verhältnis zum Kaiserreich weiter zu festigen. Daher initiiert Samuel Maharero die Reise nach Deutschland.

Beide, Tamasese und Maharero, treffen in Berlin ein, ohne zu wissen, ob es tatsächlich zu einer Audienz kommen wird. Sie kommen in einem anderen Zusammenhang nach Deutschland, nämlich als Teil von sogenannten „Völkerschauen“. Solche Schauen waren damals sehr beliebt, nicht nur in Deutschland, sondern quer durch die westliche Welt. Manche Wissenschaftler*innen sprechen von dieser rassistischen Praxis heute auch als „Menschenzoos“, weil in ihnen Personen aus den Kolonien oder als „exotisch“ markierte Menschen in zoologischen Gärten ausgestellt wurden. Konkret kommt Friedrich Maharero im Rahmen einer großen Kolonialausstellung, die 1896 im Treptower Park stattfindet, nach Berlin. Diese Kolonialausstellung wird vom Reichskolonialamt, also der zentralen kolonialpolitischen Institution, mitgetragen. Sie soll Werbung für das koloniale Projekt, für den kolonialen Gedanken in der deutschen Bevölkerung machen. Und die Macher gehen davon aus, dass dazu „Völkerschau“-Elemente das effektivste Mittel sind. Und tatsächlich lockt die Kolonialausstellung mit den ausgestellten Kolonisierten mehrere Millionen Berlinerinnen und Berliner an.

Friedrich Maharero und Tamasese kommen also beide zunächst im Zuge von „Völkerschauen“ nach Deutschland und werden über Wochen ausgestellt. Erst im letzten Moment entscheidet sich, dass es zu den erhofften Audienzen kommt. Damit ist aber auch klar, dass die Initiative zu den Treffen nicht vom Kaiser ausgeht. Er macht im Grunde nur, was die Gouverneure von Samoa und Deutsch-Südwestafrika ihm raten. Diese Beamten argumentieren, dass die Audienzen politisch opportun seien, da es die Beziehungen zu den Kolonisierten verbessere und die Wahrscheinlichkeit vergrößere, dass der Frieden in den Kolonien erhalten bleibe. Es sei daher sinnvoll, wenn der Kaiser sich auf die Treffen einließe. Hier erscheint der Kaiser als ein Akteur, der ein Stück weit von anderen gesteuert wird und der vor allem eine symbolische Rolle als Staatsspitze einnimmt, aber nicht als Akteur, der seine eigene kolonialpolitische Agenda verfolgt.

Hagemann: Es ist wirklich schwer vorstellbar, was den Menschen durch den Kopf gegangen sein muss. Zunächst nach Deutschland zu reisen, um hier auf diese Weise zur Schau gestellt zu werden und dann beim selben Besuch als politscher Vertreter eines Gebietes – das ja immerhin Teil des Deutschen Reiches war – vom Staatsoberhaupt empfangen zu werden.

 

Zur Kolonialität des Berliner Schlosses

Hagemann: Wenn man jetzt aber die Ebene der politischen Entscheidungsstruktur betrachtet, welche Rolle würden Sie da dem Berliner Schloss als Ort tatsächlicher Ereignispolitik zuschreiben?

Kreienbaum: Da würde ich sagen, dass die Rolle eher gering ist. Auf Ebene der Audienz, als symbolischer Ort, ist das Schloss relevant. Da spielt es eine Rolle in der Kolonialgeschichte. Aber die wirklich wichtigen Entscheidungen der deutschen Kolonialpolitik, die die deutsche Kolonialgeschichte geprägt haben, werden vor allem in den Kolonien selbst getroffen – von den Gouverneuren, von den Bezirksamtsleuten, von Militärs, aber natürlich auch von Seiten der verschiedenen kolonisierten Gruppen und Akteure. Wenn wir nach Berlin, also auf die Metropole schauen, dann würde ich sagen, dass es andere Orte gibt, an denen die zentralen und wirklich einflussreichen Entscheidungen getroffen worden sind. Am stärksten fällt das wohl bei der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 auf. Die findet eben nicht im Berliner Schloss statt, sondern im Reichskanzler-Palais, weil der Reichskanzler Bismarck der Ausrichter dieser Veranstaltung ist. Ganz allgemein kann man mit Blick auf Berlin wohl sagen, dass das Reichskanzler-Palais oder das Auswärtige Amt mit der Reichskolonialabteilung als der zentralen Institution, die sich mit Kolonialfragen beschäftigt, für die deutsche Kolonialgeschichte die wichtigeren Orte sind. Was nicht heißt, dass das Schloss nicht auch eine Rolle spielt, aber eben auf einer anderen Ebene.

Hagemann: Ja, unabhängig von dieser eher geringen Rolle in der Ereignisgeschichte ist das Berliner Schloss ein Symbolort des Deutschen Reiches und der Kolonialpolitik. Das erfahren wir heute im täglichen Zusammentreffen mit Kolleg*innen aus dem Globalen Süden.

 

Die rekonstruierten Fassaden des Schlosses lösen Irritationen, Wut und Trauer aus, weil sie den imperialen Anspruch des Deutschen Reiches reproduzieren. Das Gebäude wird stark mit Wilhelm II. und der Kolonialpolitik Deutschlands assoziiert, die in seinem Namen stattfand.

Folgerichtig sind die ideologischen Grundlagen des Kolonialismus im Schloss durchaus präsent. Das drückt sich neben der allgemeinen Machtsymbolik der Architektur vor allem in den allegorischen Darstellungen der Kontinente aus, die sich in der Ausstattung des Schlosses bereits im 18. Jahrhundert mehrfach an prominenten Stellen finden. Zum Beispiel zeigt sich das in den monumentalen Skulpturengruppen, die Andreas Schlüter über den Türen des Rittersaals schuf. Sie drücken ein in Europa lange etabliertes Weltbild aus, das seit dem 17. Jahrhundert in der Ikonografie festen Formeln folgt. Dabei ist Europa häufig als gekrönte Gestalt dargestellt, die aufgrund von Wissenschaft und technischem Fortschritt zur Herrschaft über die anderen, angeblich weniger zivilisierten Kontinente berufen ist. Im Rittersaal lehnt Europa daher locker auf dem Erdglobus, umgeben von modernsten europäischen Waffen.

Im Gegensatz dazu sehen wir dort für Afrika zum einen eine Gestalt, die ihren Kopf verhüllt – als Anspielung auf den „dunklen Kontinent“. Zum anderen erkennt man eine ohnmächtig daliegende, nackte Frau, die von einem über ihr stehenden, gewaltigen Löwen wahrscheinlich gleich getötet wird. In der stereotypen Darstellung der Frau als „afrikanisch“ wird so Wildheit und Gefährlichkeit mit einer Opferrolle verknüpft. Diese Skulpturen sind keine direkte Anspielung auf preußische Kolonialpolitik der Zeit, sondern spiegeln vielmehr ein tief verwurzeltes Überlegenheitsgefühl Europas, das der Kolonisierung der Welt auch im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde liegt.

Um noch einmal auf die Rolle des Berliner Schlosses in der Ereignisgeschichte der Kaiserzeit zurückzukommen: Es ist bemerkenswert, dass eine Veranstaltung wie die Berliner Konferenz – die aus damaliger Perspektive einer der Höhepunkte deutscher internationaler Politik ist – nicht dort stattfindet. Ich habe versucht herauszufinden, ob während der Konferenz vielleicht ein Empfang oder ein Abendessen für die Konferenzteilnehmer im Schloss stattfand. Aber nach meinem bisherigen Kenntnisstand war das nicht der Fall.

Wir haben vorhin schon kurz über die Ausstattung des Schlosses in der Kaiserzeit geredet und wie sich hier Wilhelms Interesse an der Welt- und Flottenpolitik spiegelt. Umgekehrt hat es mich überrascht zu sehen, wie gering die Verweise auf das Kolonialreich Deutschlands sind. Das betrifft sowohl die Ausstattung der Wohnung Wilhelms II. als auch der Repräsentations- und Festsäle. Wenn man sich die historischen Fotografien anschaut, die das Schloss in der kaiserzeitlichen Ausstattung zeigen, fällt auf, wie wenige konkrete Hinweise es auf die afrikanischen oder pazifischen Territorien gibt.

Das überrascht vor allem, wenn man weiß, wie intensiv die bildliche und mediale Darstellung kolonialer Politik im öffentlichen Raum in Deutschland damals war.

Im heutigen Stadtbild Berlins sind viele Spuren des Kolonialismus der Kaiserzeit anzutreffen. Als Beispiel habe ich hier ein Gebäude in der Nachbarschaft: In der Universitätsstraße 3 hat man 1903 ein Bürogebäude errichtet. Über dem Eingang sieht man zwei nackte Frauen knien, die rassistische Stereotypen von „Asiatinnen“ und „Afrikanerinnen“ bedienen. Sie halten ein Schild, auf dem ein europäisches Segelschiff dargestellt ist. Darunter stehen zwei mittelalterlich anmutende europäische Ritter mit Schwert. Hier haben wir bildlich einen Herrschafts- und Unterwerfungsanspruch der Europäer an einem ganz beliebigen Bürogebäude, einfach als Dekoration. Das ist in seiner Beiläufigkeit frappierend und zeigt wie tief dieses rassistische Gedankengut verankert war.

In dieser Deutlichkeit findet man das in der kaiserzeitlichen Ausstattung des Berliner Schloss erstaunlicherweise nicht. Warum wurde – aus herrschaftspolitischer Sicht – die Möglichkeit nicht genutzt, das Berliner Schloss als Hauptresidenz eines weltumspannenden Reiches darzustellen? Das ist eine interessante Frage und wir sind hier gedanklich erst am Anfang. Es fällt generell auf, dass das Berliner Schloss nach 1871 nicht betont vom Königs- zum Kaiserschloss umgestaltet wurde. Es bleibt vor allem das Schloss der Könige von Preußen. Das kann man auch beim Umbau des Weißen Saales 1890 bis 1894 beobachten. Der Hauptfestsaal des Schlosses wird mit gewaltigem Aufwand neugestaltet. Es wäre die ideale Gelegenheit gewesen, eine Ikonografie zu entwickeln, die das Schloss als Zentrum des deutschen Kaiserreiches als eines mehrere Kontinente umfassenden Imperiums darstellt. Aber das findet offenbar ganz bewusst nicht statt. Die neue Ausstattung ist vielmehr ganz auf die Verherrlichung der Dynastie der Hohenzollern angelegt: Es gibt eine Reihe von Statuen der Hohenzollern-Könige entlang der Wände. An der Decke sind die Wappen Nürnbergs, Brandenburgs, Preußens und des Deutschen Reiches dargestellt, die den Aufstieg der Hohenzollern von Burggrafen zu Nürnberg zu Königen von Preußen bis hin zu deutschen Kaisern repräsentieren. Darstellungen der Reichsteile oder gar der Kolonien fehlen.

Mein vorläufiges Fazit wäre, dass das Berliner Schloss für Wilhelm II. offenbar weniger das symbolische Zentrum des deutschen Kaiserreiches darstellt als vielmehr ein Denkmal seiner Familie. Deshalb stellt sich die Frage, wie das in anderen Schlössern aussieht?

 

Die Bedeutung des Neuen Palais in Potsdam – die sogenannte „Sühnemission“ und die „Spitze des Kilimandscharo“

Kreienbaum: Die Rolle aller anderen Schlösser einzuschätzen, ist natürlich ein Riesenfeld. Da bin ich schlicht und ergreifend überfragt. Aber was spannend ist und worauf Sie anspielen, ist, dass das Neue Palais in Potsdam eine erstaunlich große Rolle spielt, gerade wenn es um China und um Kiautschou geht. Der Kaiser sitzt dort und eben nicht im Berliner Schloss, als er den Impuls zur Besetzung Kiautschous gibt. Das hat wahrscheinlich viel damit zu tun, dass der Kaiser ohnehin lieber in Potsdam ist als in Berlin. Weniger zufällig und besonders aufgeladen ist die Rolle des Neuen Palais am Ende des Boxerkriegs. Der Krieg wird von einer Koalition von Großmächten gegen China geführt und diese Mächte zwingen der chinesischen Regierung anschließend eine Reihe von Bedingungen auf. Gerade Deutschland insistiert, dass eine sogenannte „Sühnemission“ nach Deutschland an den kaiserlichen Hof geschickt werden soll, wo sich die chinesische Delegation auf eine bestimmte Art und Weise entschuldigen bzw. einen symbolisch hochgradig aufgeladenen Kniefall vollführen soll.

 

Zum Kniefall kommt es im Endeffekt nicht. Aber bezeichnend ist, dass das Treffen nicht im Berliner Schloss stattfindet, sondern im Neuen Palais in Potsdam. Was mich, aber das ist mehr ein intuitiver Eindruck, zu der Frage führt: Ist das Neue Palais für die deutsche Kolonialgeschichte wichtiger als das Berliner Schloss? Das müsste man sich definitiv noch mal genauer und systematischer anschauen.

Hagemann: Dafür spricht auch hier der Umgang mit Kulturgütern. Der Boxerkrieg, den die europäischen Mächte gemeinsam mit den USA gegen China führen, ist äußerst brutal. Peking wird geplündert, es kommt zu vielen Toten und Vergewaltigungen. Dabei wird auch das kaiserliche Observatorium in Peking ausgeraubt. Riesige bronzene Astrolabien aus dem 17. Jahrhundert werden nach Deutschland gebracht. Sie werden vor der Großen Orangerie im Park Sanssouci aufgestellt, und zwar wenige Wochen bevor der chinesische Prinz Chun, der Bruder des Kaisers, in Potsdam ankommt.

Er und seine hochrangige Delegation werden in den Gästeräumen in der Orangerie untergebracht. Das heißt, wenn die Gäste vor ihren prächtigen Wohnsitz treten, sehen sie diese Beutestücke, die unter blutigsten Umständen aus ihrer Residenz geraubt worden sind. Das ist ein ganz krasses Beispiel dafür, wie Beutestücke zur Erniedrigung besiegter Gegner eingesetzt wurden. In China gab es daher auch ein starkes Bewusstsein für das Unrecht, durch das diese Beutestücke nach Potsdam gelangt waren. Obwohl China gar keine Partei des Ersten Weltkriegs war, setzte es im Versailler Vertrag die Festlegung durch, dass das Deutsche Reich diese Stücke 1919 zurück nach Peking geben musste, wo sie heute wieder im Observatorium zu sehen sind.

Die Frage, warum das Neue Palais hier so eine wichtige Rolle spielt, ist interessant, weil neben dem Kontext China auch ein konkreter Bezug zu Afrika auftaucht. Die Wände des Grottensaals, in dem die chinesische Delegation empfangen wurde, sind über viele Jahrzehnte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sukzessive mit Kristallen, Mineralien und Fossilien aus der ganzen Welt geschmückt worden.

 

Dazu gehörte unter Wilhelm II. auch die sogenannte „Spitze des Kilimandscharo“. Der höchste Berg Afrikas lag im damaligen Deutsch-Ostafrika und wurde 1889 erstmals von einem Europäer – dem Deutschen Hans Meyer – bestiegen. Meyer überreichte dem Kaiser im folgenden Jahr einen Stein vom Gipfel des Bergs. Das unscheinbare Stück Lava wurde in dem repräsentativen Saal an einer wenig prominenten Stelle angebracht. Es ist eher eine beiläufige Präsentation – immerhin mit einer kleinen Beschriftungstafel, die es bei anderen Objekten in der Wandgestaltung nicht gibt.

Wir haben hier mit den astrologischen Objekten vor der Orangerie und der sogenannten „Spitze des Kilimandscharo“ eine direkte Verbindung zu kolonialen Geschehnissen, wie wir sie im Berliner Schloss so nicht finden.

Wir sind erst am Anfang, das zu verstehen, und es ergeben sich mehr Fragen als Antworten. Es bleibt daher eine wichtige Aufgabe für unsere Forschungen, die Ausstattung der unterschiedlichen Residenzen Wilhelms II. in Hinblick auf die Darstellung des Kolonialismus systematisch zu untersuchen.

Dazu gehört auch die Frage nach dem Umgang mit Geschenken. Kulturgüter aus den Kolonien sind ja nicht nur als Beute nach Berlin gelangt, sondern auch als diplomatische Geschenke. Bei einem offiziellen Besuch gehörte der Austausch von Geschenken zum festen Bestandteil des Protokolls. Auch dazu haben Sie einige Spuren gefunden. Vielleicht möchten Sie dazu berichten?

 

Geschenke aus dem kolonialen Kontext in den heutigen Sammlungen der Museen

Kreienbaum: Sehr gerne. Ich bin auf eine Reihe von Objekten gestoßen, konnte aber nur oberflächlich nachrecherchieren, wo diese Gegenstände hingelangt sind. Ein Provenienz-Forschungsprojekt würde hier natürlich viel systematischer ansetzen.

 

 

Ein Beispiel möchte ich hervorheben, nämlich eine sogenannte feine Matte. Das sind symbolisch sehr stark aufgeladene Gegenstände in der damaligen samoanischen Gesellschaft. Diese feine Matte wurde von Mata‘afa Iosefo 1910 an den Kaiser verschenkt. Mata’afa Iosefo war der damalige Ali’i Sili, der höchste einheimische Würdenträger. Der Kaiser nahm die Matte offensichtlich entgegen und gab sie direkt an das Königliche Museum für Völkerkunde weiter, also an die Institution, die der Vorgänger des heutigen Ethnologischen Museums ist. Und so kommt es, dass diese feine Matte heute hier im Humboldt Forum ausgestellt ist.

 

Tatsächlich bin ich im Rahmen meiner Recherchen noch auf eine ganze Reihe weiterer feiner Matten gestoßen. Ein Jahr später, 1911, ahnt Mata‘afa Iosefo, dass er bald sterben wird und verschenkt seine übrigen feinen Matten an verschiedene samoanische Adlige und auch an Kaiser Wilhelm II., der zu dieser Zeit offiziell auch samoanischer König ist – einer seiner vielen Titel. Was aus dieser Matte geworden ist, habe ich nicht herausgefunden. Ein zweites Beispiel: Tamasese, der den Kaiser 1911 im Schloss besucht, verschenkt an den Kaiser und an die Kaiserin jeweils eine wertvolle feine Matte. Auch da haben die Anfragen beim Ethnologischen Museum erstmal nichts ergeben und ich fände es hochgradig spannend zu erfahren, was eigentlich mit ihnen passiert ist. Sind sie noch irgendwo in den Beständen, aber noch nicht verzeichnet? Oder haben sie einen ganz anderen Weg genommen? Sind sie vielleicht in anderen ethnologischen Museen irgendwo in der Republik gelandet? Ich glaube, hier würden sich weitere Nachforschungen lohnen.

Hagemann: Hier können wir also ein weiteres Feld ausmachen, mit dem sich zukünftig eine intensivere Beschäftigung lohnt: das Verhältnis Wilhelms II. zum Königlichen Museum für Völkerkunde. In seiner symbolischen Funktion als deutscher Kaiser steht er im Kontakt mit Würdenträgern aus den Kolonien und erhält kostbare Geschenke. Sie werden offenbar aber häufig nicht in die Ausstattung der Schlösser integriert, sondern direkt an die Institution des Museums weitergegeben – an deren Ausbau er ein starkes Interesse in Konkurrenz zu den Hauptstädten in London, Paris und Wien hatte.

Hier wird ein Austausch mit den Kolleg*innen der Provenienzforschung der Staatlichen Museen sicher sehr fruchtbar sein. Weitere Forschungen zur Geschichte des Ortes im Lichte der kolonialen Vergangenheit und seiner heutigen Kolonialität erscheinen in jedem Fall lohnenswert.

Lieber Herr Kreienbaum, das ist vielleicht ein gutes Schlusswort. Vielen Dank für die sehr erhellenden Einblicke in die Ergebnisse Ihrer Arbeit!

Kreienbaum: Vielen Dank, es hat mich gefreut.

 

Autor*innen
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Alfred Hagemann

Dr. Alfred Hagemann ist Leiter des Bereichs Geschichte des Ortes der Stiftung Humboldt Forum. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Architektur- und Kulturgeschichte des Berliner Hofes im 18. Jahrhundert, historische Frauenforschung und die staatliche Selbstdarstellung der DDR. Der Kunsthistoriker hat in den letzten fünfzehn Jahren eine Reihe kulturhistorischer Ausstellungen zur Geschichte Preußens und der DDR in Berlin und Potsdam kuratiert.

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Jonas Kreienbaum

PD Dr. Jonas Kreienbaum leitet das DFG-Projekt „Neoliberale Globalisierung oder ‚global disconnect‘?“ an der Freien Universität Berlin. Der Historiker promovierte 2013 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Arbeit „»Ein trauriges Fiasko«. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900–1908.“ 2020 folgte dann seine Habilitation an der Universität Rostock. Seine Forschungen beschäftigen sich mit der Geschichte des Kolonialismus, Dekolonisierung, Massengewalt und Wirtschaftskrisen.